Sonntag, 23. Juli 2006
Die Muetze meines Opas
von Selim Özdogan aus Trinkgeld vom Schicksal
Es liegt ein Trost in der hinduistischen Vorstellung, dass die Dinge der äusseren Welt nur eine Illusion sind. Denn wer lebt, verliert. Meistens eher beiläufig, Feuerzeuge, Kugelschreiber, Socken, Münzen, manchmal gähnt man vor Langeweile, wenn schon wieder eine Büroklammer spurlos verschwunden ist. Doch ab und an kommen einem Dinge abhanden, deren Verlust schmerzt. Je mehr du besitzt, desto mehr besitzt dich und kettet dich an diese Welt, je mehr dein Herz an Andenken, Erbstücken, Kuscheltieren und Glücksbringern hängt, desto schwerer wird es.
Ich weiss nicht, was mit der Mütze meines Opas nach seinem Tod passiert ist. Damals bin ich noch nicht mal auf die Idee gekommen, danach zu fragen, selbst wenn es mir eingefallen wäre, hätte ich wahrscheinlich nicht darum gebeten, sie als Erinnerung haben zu dürfen. Ich versuche zu vermeiden, Dinge anzuhäufen, die verloren gehen können. Oder einen nach Jahren nur noch vor Langeweile gähnen zu lassen.
Es war eine dunkelgraue Stoffmütze mit Schirm, wie sie die Männer aus ländlichen Gegenden in der Türkei öfter tragen. Ich kann mich nur selten an Gelegenheiten erinnern, bei denen mein Opa sie nicht trug, wenn er draussen war. Doch im Haus liess er sie gerne auf dem Diwan liegen, auf dem Kühlschrank, dem Radio, später dem Fernseher, irgendwo, wo er sie schnell finden konnte.
Ich muss vier oder fünf Jahre alt gewesen sein, als ich sie zum ersten Mal unbeobachtet in die Hand nahm. Ich hatte nicht das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, aber ich wollte auch nicht entdeckt werden. Was ich tat, erschien mir sehr intim, und ich hatte eine Ahnung von der Scham, die mich überkommen würde, sollte mich jemand so sehen. Diese Mütze trug er den ganzen Tag auf dem Kopf, sie war ein Teil von ihm. Ich nahm sie in die Hand, untersuchte die speckigen Ränder, wunderte mich über die gefalteten Zeitungsstreifen, die mein Opa unter den Saum geschoben hatte. Dann führte ich die Mütze vorsichtig an meine Nase. Seitdem habe ich diesen Geruch nie wieder vergessen. Es roch nach Leder, Schweiss, Talg, Papier, Druckerschwärze, Holz. Ein brauner, erdiger Geruch, ein wenig stumpf, ein wenig säuerlich, aber kein bisschen muffig, wie alte Männer schon mal riechen. Nicht nur die Mütze, auch der strenge Körpergeruch meines Opas sind mir nie muffig vorgekommen. Ich habe das später darauf zurückgeführt, dass er immer viel an der frischen Luft gearbeitet hat, bis kurz vor seinem Tod hat er sich noch um den Garten gekümmert und ist Moped gefahren. Es kam kaum vor, dass er drinnen sass und vor Langeweile gähnte.
Möglicherweise hat er sich im Laufe der Jahre eine neue Mütze gekauft, doch dann war es genau die gleiche, und er hatte den Winter und den Frühling über Zeit, sie zu tragen, so dass ich sie in den Sommerferien, wenn wir ihn besuchten, nicht von den anderen unterscheiden konnten. In meiner Vorstellung ist es über zwanzig Jahre lang dieselbe Mütze gewesen, was nicht sein kann, aber es war zwanzig Jahre immer derselbe Geruch, den ich so nie mehr gefunden habe und an dem so viele Erinnerungen für mich hängen.
Eines Tages traute ich mich, meine Grossmutter zu fragen, was es mit der Zeitung unter dem Saum auf sich hatte. Und sie erzählte mir, die Zeitung würde verhindern, dass die Mütze stank. Dann gähnte sie. Wahrscheinlich aus Langeweile.
Die Mütze symbolisierte alles für mich, was ich an meinem Opa liebte und schätzte, und der Geruch war die Seele der Mütze. Manchmal sehe ich ähnliche Mützen, aber sie bedeuten mir nichts, setzen noch nicht mal Bilder in meinem Kopf frei. Doch es passiert, dass ich etwas rieche, das mich an diesen Duft erinnert, brüchiges Leder, an dem Lehm klebt, der Schweiss eines alten Mannes, der mich umarmt, das Baumhaus meines Neffen nach dem Regen, der Mundgeruch eines Boulespielers, der vor Langeweile gähnt. Dann kann ich meinem Opa nah sein, ich kann ihn fühlen, ich werde warm und weich. Es liegt ein Trost darin, dass das ohne Mütze funktioniert, es liegt etwas Erhabenes in der Vorstellung, dass der Geruch in einer anderen Welt immer noch existiert, immer existiert hat und immer existieren wird.
Es liegt ein Trost in der hinduistischen Vorstellung, dass die Dinge der äusseren Welt nur eine Illusion sind. Denn wer lebt, verliert. Meistens eher beiläufig, Feuerzeuge, Kugelschreiber, Socken, Münzen, manchmal gähnt man vor Langeweile, wenn schon wieder eine Büroklammer spurlos verschwunden ist. Doch ab und an kommen einem Dinge abhanden, deren Verlust schmerzt. Je mehr du besitzt, desto mehr besitzt dich und kettet dich an diese Welt, je mehr dein Herz an Andenken, Erbstücken, Kuscheltieren und Glücksbringern hängt, desto schwerer wird es.
Ich weiss nicht, was mit der Mütze meines Opas nach seinem Tod passiert ist. Damals bin ich noch nicht mal auf die Idee gekommen, danach zu fragen, selbst wenn es mir eingefallen wäre, hätte ich wahrscheinlich nicht darum gebeten, sie als Erinnerung haben zu dürfen. Ich versuche zu vermeiden, Dinge anzuhäufen, die verloren gehen können. Oder einen nach Jahren nur noch vor Langeweile gähnen zu lassen.
Es war eine dunkelgraue Stoffmütze mit Schirm, wie sie die Männer aus ländlichen Gegenden in der Türkei öfter tragen. Ich kann mich nur selten an Gelegenheiten erinnern, bei denen mein Opa sie nicht trug, wenn er draussen war. Doch im Haus liess er sie gerne auf dem Diwan liegen, auf dem Kühlschrank, dem Radio, später dem Fernseher, irgendwo, wo er sie schnell finden konnte.
Ich muss vier oder fünf Jahre alt gewesen sein, als ich sie zum ersten Mal unbeobachtet in die Hand nahm. Ich hatte nicht das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, aber ich wollte auch nicht entdeckt werden. Was ich tat, erschien mir sehr intim, und ich hatte eine Ahnung von der Scham, die mich überkommen würde, sollte mich jemand so sehen. Diese Mütze trug er den ganzen Tag auf dem Kopf, sie war ein Teil von ihm. Ich nahm sie in die Hand, untersuchte die speckigen Ränder, wunderte mich über die gefalteten Zeitungsstreifen, die mein Opa unter den Saum geschoben hatte. Dann führte ich die Mütze vorsichtig an meine Nase. Seitdem habe ich diesen Geruch nie wieder vergessen. Es roch nach Leder, Schweiss, Talg, Papier, Druckerschwärze, Holz. Ein brauner, erdiger Geruch, ein wenig stumpf, ein wenig säuerlich, aber kein bisschen muffig, wie alte Männer schon mal riechen. Nicht nur die Mütze, auch der strenge Körpergeruch meines Opas sind mir nie muffig vorgekommen. Ich habe das später darauf zurückgeführt, dass er immer viel an der frischen Luft gearbeitet hat, bis kurz vor seinem Tod hat er sich noch um den Garten gekümmert und ist Moped gefahren. Es kam kaum vor, dass er drinnen sass und vor Langeweile gähnte.
Möglicherweise hat er sich im Laufe der Jahre eine neue Mütze gekauft, doch dann war es genau die gleiche, und er hatte den Winter und den Frühling über Zeit, sie zu tragen, so dass ich sie in den Sommerferien, wenn wir ihn besuchten, nicht von den anderen unterscheiden konnten. In meiner Vorstellung ist es über zwanzig Jahre lang dieselbe Mütze gewesen, was nicht sein kann, aber es war zwanzig Jahre immer derselbe Geruch, den ich so nie mehr gefunden habe und an dem so viele Erinnerungen für mich hängen.
Eines Tages traute ich mich, meine Grossmutter zu fragen, was es mit der Zeitung unter dem Saum auf sich hatte. Und sie erzählte mir, die Zeitung würde verhindern, dass die Mütze stank. Dann gähnte sie. Wahrscheinlich aus Langeweile.
Die Mütze symbolisierte alles für mich, was ich an meinem Opa liebte und schätzte, und der Geruch war die Seele der Mütze. Manchmal sehe ich ähnliche Mützen, aber sie bedeuten mir nichts, setzen noch nicht mal Bilder in meinem Kopf frei. Doch es passiert, dass ich etwas rieche, das mich an diesen Duft erinnert, brüchiges Leder, an dem Lehm klebt, der Schweiss eines alten Mannes, der mich umarmt, das Baumhaus meines Neffen nach dem Regen, der Mundgeruch eines Boulespielers, der vor Langeweile gähnt. Dann kann ich meinem Opa nah sein, ich kann ihn fühlen, ich werde warm und weich. Es liegt ein Trost darin, dass das ohne Mütze funktioniert, es liegt etwas Erhabenes in der Vorstellung, dass der Geruch in einer anderen Welt immer noch existiert, immer existiert hat und immer existieren wird.
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Lu,
2006-07-24 09:59
ach selim-
vor jahren kaufte ich mir ein buch nur wegen des phantastischen titels: es ist so einsam im sattel seit das pferd tot ist.
titel kann er!
vor jahren kaufte ich mir ein buch nur wegen des phantastischen titels: es ist so einsam im sattel seit das pferd tot ist.
titel kann er!
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