Freitag, 22. Oktober 2004
"stolen" short story
anruf

sometimes i wish there was someone i could write a letter to
i look at the piles of mail on the floor
they habe someone to write to
i bet it´s not a bad feeling
to be able to reach out
and believe in your heart that someone will be there
i wish i could believe that too

henry rollins


das telefon klinget. ich gehe dran. hallo? es meldet sich niemand, doch ich höre ein sachtes atmen. hallo, hallo, ja, ich bin dran. immer noch nichts. ich warte, ob der andere auflegt. oder die andere. die atemgeräusche klingen nach einer frau, keine ahnung, warum ich das so empfinde. atmen frauen anders?
da ist eine spannung, als wollte sie etwas sagen, aber würde sich nicht trauen. hallo? sollen wir reden? mir wird heiss. ist es jemand, den ich kenne? ich habe ein schlechtes gewissen. in letzter zeit habe ich einige sachen getan, die weder gut noch richtig waren.ich konnte nicht ohne vergnügen sein. auf einmal habe ich ein schlechtes gewissen. ich wollte doch niemand weh tun. aber ich habe es in kauf genommen. mein gesicht glüht. hallo, kennen wir uns? immer noch keine antwort. aber ich ahne, dass sie nicht auflegen wird, sie hat angerufen, um etwas zu erfahren. ich halte die luft an. nein, nein, ich kenne sie nicht, ich kenne keine frau, die so atmet. die legt immer noch nicht auf.
du hast ganz schön zugenommen in letzter zeit, oder? versuche ich, sie zu provozieren. ich höre ein unterdrücktes kichern. ein anfang. sollen wir reden? frage ich erneut. kennen wir uns irgendwoher? nein, flüstert sie. ihr erstes wort. es ist tatsächlich eine frau. kenne ich die stimme? wird gleich eine lawine von vorwürfen über mich hereinbrechen? so geht das aber nicht. ich bin unglücklich. ich komme damit nicht klar. du hättest nie anfangen dürfen.
wir kennen uns nicht, flüstert sie. wenn es so ist, dann lass uns reden, erzähl mir aus deinem leben, sage ich.
es klingt, als würde sie ansetzen, etwas zu sagen. ich warte. nichts passiert.
schau mal, es macht mich nervös, versuche ich es, du weisst, wo du angerufen hast, aber ich habe nicht die geringste ahnung, wer du sein könntest. vielleicht willst du mich nur verarschen. nein, flüstert sie wieder, nein, das will ich bestimmt nicht. die stimme kommt mir nicht bekannt vor. das schlechte gewissen bleibt, aber mir ist nicht mehr heiss. sie will reden, sie will irgend etwas. ich habe angst, dass mir die stimme wegbleibt, sagt sie. es geht doch, sage ich, entspann dich.
ich schätze sie auf mitte zwanzig, doch sie will mir nichts verraten, ihren namen nicht, ihr alter nicht, nicht, wo sie herkommt, nicht, was sie arbeitet. einfach gar nichts. alles, was ich erfahre, ist, dass sie eins meiner bücher gelesen hat und danach die auskunft angerufen.
sie weiss viel mehr von mir als ich von ihr. ich versuche, sie lockerzuplaudern, ich frage nicht, was sie will oder wovor sie angst hat, wir trudeln ich seichten gewässern, ich mache ihr komplimente über ihre stimme und ihr lachen. es ist nur ein trick, wir sind alle eitel, und ich bin auf der suche nach den richtigen knöpfen, die man bei ihr drücken muss. es interessiert mich, was einen dazu bringen kann, bei fremden menschen anzurufen und die ersten zwei minuten kein wort zu sagen. verzweiflung? angst? hoffnung? galubt sie, ich wüsste etwas? das ist nicht der fall. will sie trost, einen weg aus der einsamkeit? es gibt tage, an denen ich genau das will, aber ich weiss nicht, wo man so etwas findet. an solchen tagen klingelt manchmal das telefon und lenkt mich ab.
man könnte sie abtun. man könnte einfach sagen, sie ist gestört, psychotisch, geisteskrank. aber ich sitze oft über monate hinweg tag für tag allein zu haus und schreibe seite um seite, um irgendwann einen roman fertig zu haben, von dem ich hoffe, dass er auch noch andere menschen interessiert. das ist mein leben, und es erscheint mir oft genug normal.
und ich erinnere mich an eine zeit, da sass ich zu hause und war völlig verzweifelt. ich fühlte mich einsam. die wenigen menschen, mit denen ich regelmässig kontakt hatte, konnten mich nicht verstehen, sie wussten einfach nicht, wie es war, nicht zur welt dazuzugehören. sie wussten nicht, wie es war, mit den meisten überhaupt nicht sprechen zu können. worte funktionieren nicht, sie logen, sobald sie aus meinem mund kamen.
ich nährte einen hass, den niemand verstehen konnte. ich entwickelte eine sehnsucht nach einer person, die mir helfen würde, mich nicht so seltsam zu fühlen. jemand, den ich berühren konnte, jemand, den ich umarmen konnte, jemand, der mich verstehen würde, jemand, mit dem ich wirklich reden konnte. und ich fand heraus, dass diese person nicht existiert. ich fühlte mich den leuten auf kinoleinwänden näher. ich war einfach kein teil des lebens da draussen.
die einzige person, bei der ich meine fragen und gefühle wiederfand, war henry rollins. er schien bescheid zu wissen. er sang, schrie und schrieb darüber. er hatte keine angst, sich verletzlich zu machen, er hatte keine angst, ausgelacht zu werden, er hatte keine angst, als schwächling zu gelten. so wenig er auch antworten auf die fragen wusste, er schien mir doch etwas vorauszuhaben.
also fing ich an, ihm zu schreiben. er war keiner dieser megastars, die jeden tag säckeweise post bekamen, er war ein mann, der vielleicht zwei, drei briefe täglich erhielt und sich verpflichtet fühlte, zu antworten, wenn er sah, wie das blut aus den umschlägen tropfte. so stellte ich es mir vor.
ich sass allein in meinem zimmer und schrieb, schrieb seitenlange briefe an henry rollins, und ich fühlte mich fast schon gut dabei, ich hatte die perfekte illusion, dass da jemand war, der mich verstehen konnte. ich schrieb meine sorgen, ängste und nöte auf, ohne hemmungen, ohne koketterie, ohne zu lügen, ohne hinzuzufügen, ohne falsche gründe vorzuschieben. es war eine art gebet. wenn man den allmächtigen anruft, dann kann man auch nicht unehrlich sein. wen will man damit schon hinters licht führen? wenn man so weit ist zu beten, ist man auch so weit, die wahrheit zu sagen. henry rollins war mein gott. er spielte kein rolle, dass er nicht antwortete, er las die briefe und verstand sie.

es dauerte über eine stunde, bis sie mir erzählt, dass sie katharina heisst, 29jahre alt ist, in münchen wohnt und sich mit irgendwelchen jobs durchs leben schlägt. und veganerin ist. du weisst, was das ist, oder? ja, nicht nur kein fleisch, sondern auch kein käse, keine milch, kein quark, kein joghurt, nicht mal bienenhonig. wie gross bist du eigentlich? 1,62. und was wiegst du? 54.
das geht, denke ich, aber was nimmt man zu sich, um soviel zu wiegen, wenn man fast nichts isst? man könnte sie für gestört halten. wenigstens trinkt sie weisswein. ich habe vor einiger zeit aufgehört zu trinken. nun, wer ist der beklopptere von uns beiden?
sie erzählt mir von ihrer gescheiterten ehe, der abtreibung, ihren fünf geschwistern, ihren liebschaften, bei denen sie - aus göttlicher fügung, wie sie vermutet - immer das findet, was sie gerade braucht.
ich erzähle nicht sonderlich viel, aber ähnlich persönliche dinge. warum auch nicht. was soll schon passieren, was gibts zu verlieren, es ist montag nachmittag, wir haben beide nichts zu tun.

aus: selim özdogan "trinkgeld vom schicksal"

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